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Ansgar Nierhoff

Beziehungen gegen Bedingungen Zwei Streckungen über (eine) Achse auf fremdem Gebiet

1987

Zwei geschmiedete, gegenläufige Streckungen, mittig abgesetzt.
Höhe 4050, Durchmesser bzw. Quadrat 16 × 20 cm
Stahl

Ansgar Nierhoff

*1941 in Meschede
† 2010 in Köln

»Skepsis ist die Kunst, auf alle mögliche Weise erscheinende und gedachte Dinge einander entgegenzusetzen, von da aus wir wegen der Gleichwertigkeit der entgegengesetzten Sachen und Argumente zuerst zur Zurückhaltung, danach zur Seelenruhe gelangen.«
(Sextus Empiricus, 200–250 n.Chr.)

Das Wort ›Skepsis‹ (im heutigen Sprachgebrauch ›Zweifel, Bedenken auf Grund sorgfältiger Überlegung‹) hat seine Wurzel im Griechischen und geht auf die Bezeichnung der Tätigkeit des Schauens, Spähens und Beobachtens (›skeptesthai‹) zurück.¹

Die zweiteilige Skulptur „Beziehungen gegen Bedingungen“ von Ansgar Nierhoff fügt sich in die Niederung des weitläufigen und nur auf Hügelhöhe ansteigenden Geländes des Hasselbacher/Werkhausener Tals. Die beiden Eisenstelen erheben nicht den Anspruch, von weither sichtbare Landmarken zu sein. Die örtliche Situation kann von dem umherwandernden Besucher erst allmählich visuell und räumlich erschlossen werden. Verdichten sich in der Senke die Linien der mit Holzpflöcken umgrenzten Wiesen noch zu einem aus der Ferne kaum entwirrbaren Grenzdurcheinander, so klären sich die Verhältnisse bei näherem Hinsehen: Die Wiesen stoßen hier im Talgrund als arithmetisch unregelmäßige Flächen aneinander. Für den Ort der Skulptur ergibt sich die besondere Situation eines spitzwinklig auslaufenden Feldendes, das sich wie ein Keil zwischen zwei weitere Grundstücke schiebt. Zum Zeitpunkt des Entwurfs der Plastik war dieses Zipfelchen Erde noch nicht in das Territorium ›im Tal‹ eingegliedert, es stellte de facto ›fremdes Gebiet‹“ dar. Dieser äußere Anlaß lieferte dem Bildhauer eine der Bedingungen für seine Arbeit: Zwei massive Eisenelemente sind in den Winkeln der jeweils benachbarten Felder so aufgestellt, daß sich zwischen zwei Polen eine imaginäre Achse über das nicht zugehörige Areal bildet. Die Beziehung (Achse), überbrückt die vorgegebene Bedingung (Parzellenform).

Beziehungen sind nicht nur an der Wahl der Aufstellungsorte ablesbar, sondern auch an der Form der Werkstücke. An den Stelen selbst und ihrem Verhältnis zueinander ist ein sich konträr ergänzender Formenkanon entwickelt: Eine der Streckungen geht vom zylindrischen Werkstück einer massiven Welle aus, die auf halber Länge zu einem Pfeiler mit quadratischem Querschnitt geschmiedet ist. Das Pendant ist aus einer quadratischen Bramme entwickelt, die von einer mittleren Absetzung aus in der oberen Hälfte eine säulenförmige, runde Form annimmt. Die zwei fertigen Werkstücke sind schließlich gegengleich aufgestellt, so daß sich nicht nur im einzelnen Element, sondern über die räumliche Entfernung hinweg Säulen- und Pfeilerschaftstücke komplementär entsprechen. Nierhoff geht auch in dieser Plastik² von seiner bildhauerischen Idee des ›Potentials‹ aus: Eine Form ist als Möglichkeitsform in einer anderen denkbar. Die an der Oberfläche des Materials nachvollziehbaren Schmiedeschläge lassen am einzelnen Stück den Arbeitsvorgang deutlich werden: Der Prozeß, wie aus einer Form eine andere werden kann, ist als zeitliches Geschehen in den einzelnen Hieben erstarrt und zeigt als ›Bild‹ die Idee einer potentiellen Veränderbarkeit.

Der objektiven, technischen Beschreibung der Werkstücke und ihrer Aufstellung steht die individuelle Wahrnehmung des Menschen gegenüber. Dadurch, daß der Betrachter beide Stücke nicht direkt nebeneinander sehen kann, sind präzise Form- und Maßstabsvergleiche innerhalb der Arbeit erschwert. Die Vorstellung, wie eine Form möglicherweise aus dem Volumen einer anderen entwickelt werden kann, und wie sie sich zu ihrer gegensätzlichen Ausprägung der jeweils anderen Streckung verhält, kann gedanklich nachvollzogen werden. Beide Streckungen befinden sich im Gelände auf absolut gleichem Niveau. Der Vergleich beider Stelen muß wegen ihrer räumlichen Entfernung aber immer subjektiv ausfallen: Die perspektivische Verkürzung läßt die weiter entfernt stehende Streckung optisch kleiner wirken, auch wenn identische Höhe und Aufstellung bekannt sind. Bei der Betrachtung einer Stele wird die an der anderen gewonnene Erfahrung erinnert und die momentane Wahrnehmung durch das Wissen der vorab gemachten Kenntnisse angereichert.
›Beziehungen und Bedingungen‹ ergeben sich nicht allein werkimmanent zwischen Form- und Raumbezügen beider Streckungen, sondern auch zwischen Werk und Betrachter. Die formal vom Künstler vorgegebenen Tatsachen und Entsprechungen regen die Wahrnehmung des Betrachters an, er macht räumliche und zeitliche Erfahrungen, indem er von einem Element zum anderen geht, Korrespondenzen entdeckt und Erscheinungen gedanklich ergänzt. Er reflektiert die vom Künstler geschaffene Situation und setzt diese in Bezug zu seinem Körper. Die Höhe der jeweiligen Absetzung von runder zu eckiger Form entspricht einer gefühlsmäßigen menschlichen Größe. Der Rezipient wird sich selbst als mobiles Element in einer polaren Situation bewußt. Durch die eigene Wahrnehmung und die subjektive Sichtweise (unterschiedliche Standorte) werden tatsächlich vorhandene und erlebte Beziehungen relativ, es ergibt sich ein „Umschlagen der Wahrnehmungen“³, vermeintlich sicher Geglaubtes wird anzweifelbar, rational Dargestelltes irrational. Keine Beziehung ist mehr konstant, die Bedingungen sind nunmehr auf den menschlichen Körper bezogen und nicht allein formal und werkimmanent. Der Mensch erfährt sich als Teil einer Gegebenheit, er ist Teil der Welt, die sich ihm in unterschiedlichen Relationen darbietet und erklärt.

Wie vom Künstler schon sehr früh geäußert, geht es ihm in seinen Arbeiten um »Beziehungen zwischen Bezeichnungen und dem (Bedeutungs-) Umraum«4. Ansgar Nierhoff erschafft durch seine Setzungen (die beiden Eisenstreckungen) einen Ort in der Landschaft und macht diese erfahrbar. Dabei geht er sehr vorsichtig vor: »Man kann/darf nicht gegen Landschaft angehen.«5 Geschärft im Sehen und in der Wahrnehmung betrachtet der Mensch nicht nur den Ort der Skulptur; in der Talsenke stehend wird das bezeichnete Gebiet zum erfahrbaren Mittelpunkt, der geradezu einlädt, rundum in die Landschaft zu spähen. Vollkommen neue Landschaftserlebnisse bieten sich dem Blick an: Die Sicht nach Süden orientiert sich an den beiden Stelen, ferne Bergrücken umfangen die künstliche Form. Eine weiter weg liegende, bewaldete Kuppe wird optisch als korrespondierende Fläche zur Eisenstreckung gelesen; es ergibt sich ein Spiel von flächig wahrgenommenen Hügelformen, die Landschaft schrumpft auf Papiertheaterräumlichkeit. Mit jedem Schritt des Betrachters ändert sich die Szenerie. Eine der Eisensetzungen stößt gar aus der Kontur der Landschaft hinaus, das obere, runde Eisenstück scheint sich himmelwärts zu schrauben, während das Pendant der anderen Stele von der Last des oberen Pfeilerstücks in den Boden gerammt scheint. Man meint, Bewegung zu verspüren – und weiß doch: beide Streckungen gleichen sich in Maß, Proportion und statischer Aufstellung.

Wie anders präsentiert sich beim Herumlaufen der Blick in die entgegengesetzte Himmelsrichtung, zur kleinen Landstraße hin: Die perspektivische Verkürzung der hinteren Stele scheint extrem, aber die jeweiligen mittleren Absetzungen bilden überraschenderweise ein Niveau. Die waagerechte Achse zwischen beiden ist leicht assoziierbar und läßt an Horizont denken, an eine Gerade, die Himmel und Erde trennt. Doch die rundum gemachten Erfahrungen, das Erleben der sich ständig ändernden und wechselseitig abhängigen Beziehung, belehren den Betrachter eines Besseren: Bei der Horizontalen kann es sich nur um eine Vorstellung, ein Ideal handeln. Vorstellung und Wirklichkeit werden als nicht übereinstimmend vorgeführt.

Der ›skeptische‹ Blick des Betrachters, sein vielfältiges Ausloten der Verbindungen zwischen tatsächlich Vorhandenem und subjektiv Wahrgenommenem führt zu keiner endgültigen Stellungnahme, keiner gesicherten Erkenntnis. Beziehungen setzten sich über Bedingungen hinweg. Die Bedingungen sind dabei so vielfältig wie die Möglichkeiten ihrer Erfahrbarkeit; räumliche oder jahreszeitliche Veränderungen messen sich an Nierhoffs Plastik ebenso wie der Mensch in seiner jeweils individuellen Verfaßtheit. Die Menge der unter den Bedingungen aufstellbaren Bezüge ist kaum bestimmbar. In dieser Menge wird auch die einzeln gemachte Erfahrung relativiert und fügt sich zu einem großen Gesamteindruck: Der Mensch findet zwischen Kunstwerk und natürlicher Landschaft seine ›Seelenruhe‹.

Eva Meyer-Hermann

1 Vgl. Duden, Bd. 7: Das Herkunftswörterbuch. (2., erw. Aufl.), Mannheim 1989. 
2 Übergreifende Betrachtungen zum OEuvre (E. Trier, L. Romain, H. Wiesler, G.-W. Költzsch, u.a.). In: Eisenzeit, Ausst.-Kat. Saarland-Museum Saarbrücken 1988. 
3 Ansgar Nierhoff im Gespräch mit der Verfasserin am 7.3.1992. 
4 Zit. n. Eduard Trier. In: Eisenzeit, a. a. O. Anm. 2, S. 17. 
5 Siehe Anm. 3.

im Tal – Stiftung Wortelkamp