Marin Kasimir
Ohne Titel (deux Endroits avec Sculptures)
Figurinen 222 × 58 × 34; 224 × 32 × 32 cm, Betonguß
Bank Sitzfläche 45 × 56 × 300 cm, Basaltlava
8 Kugeln je Ø 30 cm, Betonguß
Platz Ø innen 520 cm
Eibenhecke 60–90 × 40 × 1200 cm
Marin Kasimir
*1957 in München
lebt in Brüssel (B)
Am Rande der Laubwälder, die rechts und links die große Schneise säumen, stehen zwei figürliche Plastiken von Marin Kasimir. Beim Anstieg zum Mühlengraben rücken beide zum ersten Mal ins Blickfeld. Ihre strenge Pfeilerform erinnert an antike Hermen, Kultmale, die ursprünglich an Flurgrenzen, Wegkreuzungen oder Landstraßen aufgestellt wurden. Die einsehbare Seitenansicht der näherstehenden gibt eine schemenhafte Frauengestalt zu erkennen. Wenn der Besucher des ›Tal?s‹ nach zwei Dritteln seines Rundgangs das »Haus für August Sander« hinter sich läßt und an der Arbeit von Bogomir Ecker vorbei einen kleinen Pfad weitergeht, trifft er recht unvermittelt auf eine Art Plateau und steht plötzlich einer der beiden Skulpturen direkt gegenüber. Dem Ankommenden begegnet sie im Dreiviertelprofil und zeigt die Silhouette eines Mannes, der ein Buch in der Hand hält. Da die Gestalt allein durch ihre vordere Umrißlinie bezeichnet wird, wirkt die Abbildung wie ein graphischer Entwurf, der sie aus dem rückwärts geschlossenen Pfeiler herauslöst. Der Beton, aus dem die Arbeit gefertigt ist, erzeugt eine glatte hermetische Oberfläche. Entsprechend der nicht gestalteten Rückfront erwartet der Betrachter, daß nun eine frontal ausgerichtete Schauseite folgt, eine Hauptansicht, in der sich die fl ache Seitenansicht räumlich konkretisiert. Die Annahme, hier einer dargestellten Person gegenüberzutreten, erweist sich jedoch als voreilig. Das Relief, das sich aus den Konturlinien des Seitenaufrisses heraus entwickelt, gewinnt keinerlei rundplastische Form. Die Vorderansicht bleibt somit seltsam unbestimmt. Geht man weiter um die Statue herum, sorgt die zweite Seitenansicht für einen neuen Aspekt. Der Stein zeigt nun das Profil einer Frauenfigur.
Marin Kasimir spielt mit dem traditionellen Thema des Figurenstandbilds und abhängig hiervon mit den Erwartungen des Betrachters. Stände diese ›moderne Herme‹, die weder eine Gruppe noch eine Einzelfigur darstellt, die gleich einem Vexierbild im Umschreiten ihr Gesicht verändert, in einem neutralen Ausstellungsraum, würde sich ihre Aussagekraft – sieht man von der abbildenden Information einmal ab – wahrscheinlich ganz auf einen ästhetischen Diskurs konzentrieren. Das, was sie einzeln vorführt, sind Kategorien, derer sich jahrhundertelang die Bildhauerei bediente, um in ihrem Zusammenwirken die Vision eines lebendigen Körpers zu schaffen. Die vier Seiten der Skulptur isolieren nicht nur vier verschiedene Ansichten und lösen somit die Mehransichtigkeit einer Figur in eine tatsächliche Vielansichtigkeit auf, sie fungieren gleichzeitig auch als Ausdrucksträger verschiedener Grundkategorien. Die als Pfeiler belassene Rückseite zeigt lediglich Volumen und Masse, auf den Seiten erscheint als Flächenprojektion die figürliche Gestalt, während die Vorderansicht eine plastische Oberfläche präsentiert. Die Auflösung der figürlichen Geschlossenheit wird verbunden mit einer Trennung der bildhauerischen Wirkungsformen.
›Im Tal‹ inmitten ihrer konkreten landschaftlichen Umgebung bleibt diese ästhetische Reflexion ein mögliches Thema der Skulptur, die unmittelbare Wirkung des ›vielseitigen‹ Standbilds zielt auf die räumliche Orientierung des Betrachters. Im Gegensatz zu einer homogenen figürlichen Außenplastik, die selbst dann, wenn sie den Betrachter zur Bewegung auffordert, als integrative Einheit die Wahrnehmung bündelt, herrscht hier der Eindruck des Disparaten, der durch die Gestaltung des Plateaus noch verstärkt wird. Als scheinbar souveränes Denkmal beherrscht die Skulptur ein mit Eiben eingefaßtes kreisförmiges Areal. Doch das, was sich in dem Rund aufeinander beziehen müßte, beachtet genausowenig die Regeln solch einer Platzanlage, wie sich die einzelnen Aspekte der Skulptur zu einer anschaulichen Einheit zusammenfügen. Die Skulptur steht exzentrisch und nimmt daher innerhalb der Grundfläche keinen idealen Standpunkt ein. Die aufgestellte Steinbank, die mit ihren Kugelfüßen barocke Formen zitiert, richtet sich auf keine ihrer Ansichten, sie steht weder axial zur Vorderansicht noch reicht sie weit genug, um von ihr aus eine der beiden Profilfiguren zu überschauen. Die Funktionslosigkeit des vermeintlichen Ruheortes erhöht die Rastlosigkeit des Vorbeikommenden, dem sich die Gesamterscheinung nur durch eine sukzessive Auseinandersetzung mit Einzelaspekten erschließt. Er kann sich entweder mit der Männerfigur oder mit der Frauenfigur in Beziehung setzen, niemals mit beiden gleichzeitig. Obwohl deutlich erkennbar ist, daß die beiderseitigen Profillinien im Relief der Vorderansicht ineinanderfließen, ergibt sich aus dieser Synthese eine unbestimmte, anonyme Gestalt, die keinerlei Verbindung herstellt. Gänzlich unabhängig von den seitlichen Darstellungen besitzt ihre seltsame Unergründlichkeit etwas von der Suggestionskraft einer fremdländischen Kultfigur. Durch die Vereinzelung der Ansichten verliert der Platz die Funktion eines intimen Aufenthaltsortes, der sich auf die gesammelte Anschauung eines Denkmals ausrichtet. Der offene Charakter des umschlossenen Platzes wird ebenso dadurch manifestiert, daß er sich als Ausgangspunkt für außerhalb liegende Blickpunkte eignet. Der wichtigste Punkt ist sicher die zweite Skulptur des Ensembles, die der ersten höherstehenden vom Aufbau her genau gleicht. Während man die Eingegrenzte aus der Nähe betrachtet, kann die andere, die im Vergleich zu jener einsam und ungeschützt am Schneisenrand steht, nur aus der Distanz beäugt werden. Nahsicht und Fernsicht werden auf exemplarische Weise alterniert. Der Blick vom Plateau trifft wieder auf eine Dreiviertelansicht, die einsehbare Seitenansicht zeigt diesmal einen Männerakt ohne anekdotische Details. Aus der Entfernung wird sogar eine punktuelle Zusammenschau der getrennten Profilfiguren möglich. Es stellt sich ein anamorphotischer Effekt ein, wenn der Männerakt über die im Relief der Vorderansicht stattfindende Verwandlung sichtbar in eine weibliche Profillinie übergeht. Der ideale Standort für diese Sicht ist nicht gesondert gekennzeichnet er ist ein möglicher unter vielen.
Von der Steinbank selbst hat man z.B. einen freien Durchblick bis zur Anhöhe, auf der die eisernen Stämme von Erwin Wortelkamp aufragen. Rückwärts gewandt sieht man die farbigen Stangen von Lutz Fritsch, die den »Einstieg« markieren. Nicht nur die Skulptur verlangt durch ihre Vielansichtigkeit nach einer umseitigen Orientierung, auch der Platz scheint für gestreute Ausblicke geeignet. Da keine Hauptansicht oder vorgegebene Sichtachse den Blick kanalisiert, wird die landschaftliche Umgebung nicht als Kulisse festgelegter Ausschnitte, sondern umfassend wahrgenommen. Die nicht umgrenzte Version entfaltet ihre Vielseitigkeit in der Distanz. Sie beschränkt sich nicht auf ihre Ansicht vom Plateau aus, sie taucht, wenn man den Ort am Rand der Schneise bereits verlassen hat, als Blickpunkt immer wieder auf. Neben der anfangs erwähnten Sicht auf das untere Frauenprofil, wenn man den Rundgang beginnt, kann man schließlich von der Anhöhe aus die andere Seite mit der männlichen Figur und von Götz Stöckmanns »Labyrinth« aus die Rückseite sehen.
Die Arbeit von Marin Kasimir stellt sich im Hinblick auf die Entwicklung von Landschaftsgärten als zeitgenössischer Beitrag dar, obwohl sie bewußt mit Versatzstücken arbeitet, die auf historische Kontexte anspielen. Antike Statuen, figürliche Denkmäler, kreisförmig gestaltete Plätze, all das erinnert an klassische Landschaftsgärten, in denen der Besucher bestimmte Standorte mit festgelegten Blickachsen bzw. Bildfolgen zugewiesen bekommt, damit er das Mobiliar des Gartens aus der richtigen Sicht und Stimmung heraus erlebt. Auf der Suche nach solchen Ordnungsstrukturen kann das Ensemble von Marin Kasimir ganz bewußt als offene Situation erfahren werden, in der man sich selbständig orientieren und zu seiner Umgebung in Beziehung setzen muß. Die Vielzahl verschiedener Ansichten und möglicher Ausblicke erfordert immer wieder andere Standorte des Betrachters. Gleichermaßen entziehen sich die Skulpturen einem inhaltlichen Zugriff. Sie repräsentieren keine festgelegte Idee, sie bilden eine Projektionsfläche für unterschiedliche Anschauungen. Die typenhafte Zeitlosigkeit der schematisch angelegten Profilfiguren verlangt zunächst keine historische Einordnung und bietet daher Identifikationsmöglichkeiten für jedermann/frau. Thematisch wird die Koexistenz der Geschlechter. Sie oszilliert zwischen einer klaren Trennung von Mann und Frau, die sich in der Vereinzelung der Ansichten manifestiert, und einer momenthaften Auflösung der biologischen Unterschiede, wenn eine androgyne Verschmelzung der Körperformen sichtbar wird. So wie der Habitus der Aktfiguren, die ihren Kopf inmitten der Natur entrückt nach oben strecken, an spätromantische Stimmungsbilder erinnert, findet der „gebildete“ Betrachter so manche bildhafte Anspielung, die historische Assoziationen wachruft. Nicht zuletzt gereichen die Skulpturen selbst zum Gegenstand einer ästhetischen Reflexion. In diesem Sinne hält die Arbeit von Marin Kasimir, obwohl sie von der Organisation des Raums her der Tradition eine moderne Fassung entgegensetzt, an dem Bildungsanspruch der Landschaftsgärten des 18. Jahrhunderts fest. Die Figur des Lesenden läßt sich als eine Art Einstimmung auf diesen Anspruch deuten.
Dagmar Schmidt