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Bogomir Ecker

Schrei

1991/92

Schacht 210 × Ø 139 cm
Kugel 75 cm
Gitter 2,5 × 128,5 cm
Mundhöhle 8 × 8 × 14 cm

Bogomir Ecker

*1950 in Maribar, Jogoslawien
lebt in Düsseldorf

Schreie und Flüstern

Auge und Ohr sind passive Grenzorgane des Menschen. Unmittelbar leiten sie die Vielfalt der Außenweltserscheinungen in die Räume des Innenlebens. In ihnen tönen sie lautlos nach. Der Mund ist in der Lage, das was vormals filterlos hereingeflossen ist, nach seiner wunderbaren Transformation in einen neuen, möglichen, anderen Sinn wiederzugeben.

Das Prozeßhafte ist schon seit langem Bogomir Eckers Ergründungsterrain. Wahr-Nehmen, für Wahr nehmen, die Bildung subjektiver Wirklichkeit oder das Erkennen wirkenden Seins. Regelmäßig nehmen seine Skulpturen immer wieder die Form von abstrahierten Augen und Ohren an. Sie spähen und lauschen – in ihrer Größe jeweils den Ort und zugleich sich selber konterkarierend – an Hauswänden und Bäumen, in Museen und Institutionen, auf der Straße, im Wald, an Werken des Künstlers, oder gar in sich selbst. Sie koppeln sich rück, als allgegenwärtige Zeichen des Registrierens, Beobachtens und Aufnehmens. Durch die Beobachtung und Belauschung, die sie ihrerseits wiederum von außen erfahren, entsteht zunächst eine schnelle, geistige, fast paradoxe Doppelschwingung. – Zu dem Feineren, Komplexen und Raumbildenden kommen wir später noch.

»Schrei« nennt Ecker seine Skulptur hier im ›Tal‹. Das assoziative Element dieses Wortes – die energetische, plötzliche Lautentladung, im Sprachgebrauch vorwiegend als Ausruf des Erschreckens verstanden – schafft vorerst eine respektvolle Distanz zu dem uns Begegnenden, zu Betrachtenden. Kurz gesagt: Steuerung der Erwartungshaltung.

Mit dieser Einstimmung stößt man nun, in Sichtweite zum »Haus für August Sander«, auf einen kreisrunden, in die Wiese eingelassenen Gitterrost. Kühl, spröde und funktional, wie wir die Abdeckungen von Kanalisationssystemen, Entlüftungs- und Versorgungsschächten kennen. Die Zuordnung zur Tektonik des Hauses scheint die einzig mögliche Rechtfertigung für die Existenz des Gitters zu sein. Gäbe es da nicht im Menschen die Lust, in Höhlen, Löcher, Schlitze und ähnlich dunkle Räume zu blicken, mit der Bogomir Ecker stets rechnet, würde man es wohl darauf beruhen lassen. Doch Neugierde ist der Anstoß, näher zu treten und den Blick in die Welt des Unterirdischen zu lenken. – Eine kurze Erinnerung an verworrene Tunnel und versteckte Pyramidengänge wird wach. – Da steht man nun auf dem Rost und schaut, was es zu entdecken gibt: Eine große, schwebend anmutende rote Kugel, etwa 70 cm im Durchmesser und etwa 1,70 m unter den eigenen Füßen. Auf ihr befi ndet sich ein durch die Flimmerwirkung des Gitters schwer zu erkennendes, kleines Bronzeobjekt, ein anderes ist zwischen Schachtwand und Kugel eingeklemmt. Es sind zwei vergrößerte Positivabgüsse einer wie zum Schrei geweiteten Mundhöhle.

Das, was während des Fokussierens der Objekte geschieht, ist frappierend. Unvermittelt beginnt ein plötzlicher Assoziationsreigen. Die Gedanken geraten ins Taumeln, das Gitter, auf dem man steht, wird zu einem unsicheren Ort. Die Membranidee Eckers wird körperlich erlebbar, so daß man geneigt ist, sich das Ganze vorsichtshalber erst von der Seite her anzusehen. Kugel, ein in sich selbst geschlossener Körper, Welt, All, Alles, Kosmos. Schacht, Brunnen, Tunnel, Loch, schwarzes Loch. Gitter, Membrane, Grenze, Grenzbildung, Transparenz. Rachen, erstickter Ton, materialisiertes Wort, Fragment, Absterben, Amorphes, Stille, Froschkönig.

Nehmen wir beispielsweise den Klangraum, so stellen wir fest, daß seine Grenzen nicht definierbar sind, obwohl wir ihn als endlich und somit begrenzt wahrnehmen können. Gesellt sich zu diesem Klangraum ein begrifflicher hinzu – gebildet durch ein Wort – wird man unweigerlich veranlaßt, die Auffassung des herkömmlichen, materiellen Raumes zugunsten eines imaginären Raumes zu verlassen. In diesem Sinne ist Bogomir Eckers Skulptur mit ihren sich teils ergänzenden, teils gegenseitig wieder aufhebenden Analogien als Umsetzung von virtuellem, geistigem Zustandsraum in plastische Materie und umgekehrt zu verstehen. Dabei werden bereits im immateriellen Bereich Bedeutungen wie Resonanzkörper, Kommunikationsmodelle, oder andere Gesellschaftsphänomene in einen schwingenden, poetischen Zustand versetzt. Ihrer Transformation, ihrer Metamorphose in optisch-haptische Qualitäten liegt ein Prozeß zugrunde, der weder zentrisches, noch perspektivisch ausgerichtetes Denken und Handeln birgt. Mit einfachen skulpturalen und verständlich lesbaren Mitteln gelingt dem Künstler der Versuch, die Gleichzeitigkeit der Dinge und Eindrücke sichtbar zu machen. Der Ort, an dem man sich befindet, enthält dabei ein simultanes Oben und Unten, Vorne und Hinten.

Vor dieser Folie erschließen sich denn auch verschiedenste mikrokosmische Zusammenhänge, wie etwa diejenigen, die zwischen Sprachraum, Begriffsraum, materiellem Raum, Hohlraum, Bildraum, ausgegossenem oder eingeklemmtem Resonanzraum bestehen. Ebenfalls läßt sich Eckers Arbeit mühelos in den erweiternden Kontext der Natur, des Ausstellungsortes und anderer Dinge stellen, wobei dem kunstwissenschaftlichen Beschreiben und seinem statischen Instrumentarium mitunter die Grenzen seiner Darstellungsfähigkeit deutlich vor Augen und Ohren geführt werden.

»Schrei« – Ausruf eines Lebewesens. Als unartikulierter, noch ungeformter Laut könnte er in jedem Falle den Beginn einer neuen Sprache, einer neuen Verständigungsform markieren: Denn wem leuchtet nicht ein, was Linguisten längst herausgefunden haben? Daß nämlich vor der Wirklichkeit die Sprache steht, die ihrerseits das Denken formt und damit wieder die Anschauung der Realität, ja der Wirklichkeit selbst. Im Falle des Bogomir Ecker, unter dessen Händen das Unwahrscheinliche immer zum Realen, das Unsichtbare und Unhörbare zum Bild wird, wäre dies wohl die Sprache der Sinne, die den Dingen ihren Freiraum gewährt, die Fragmente ohne Versagen neu zueinander finden läßt und der Vernunft der Poesie den Vorrang vor der Logik der Vernunft einräumt. Und nicht umsonst bedeutet »Schrei«, nimmt man seine etymologische Spur auf, in seiner ursprünglichen Aussage »Notruf, feierliches Geschrei des in seinem Recht Gekränkten«.

Beate Ermacora

im Tal – Stiftung Wortelkamp