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gs /jl

Gerda Steiner/Jörg Lenzlinger

The Sleeping Beauty

2008

Silo (Länge 600 cm × Ø 300 cm)
Badewanne (Viehtränke), Kunstblumenkombinationen, Düngerlösungen, Stoff, u.a. Materialien

Gerda Steiner

*1967 in Ettiswil
lebt in Uster

Jörg Lenzlinger

*1964 in Uster
lebt in Uster

Die Schlafende Schönheit

»Zu dieser schlafenden Schönheit brauchen Sie einen Schlüssel«, stellte Frau W. beiläufig fest, ohne zu ahnen, dass sie damit unbewusst bei mir ein unwiderstehliches Verlangen geweckt hatte, das Geheimnis dieses Objekts wenn schon nicht zu entschlüsseln, so doch wenigstens auf sich wirken und so Wirklichkeit werden zu lassen.

Auf der engen und kurvenreichen Verbindungsstraße zwischen Hasselbach und Werkhausen liegt auf halber Strecke kaum wahrnehmbar auf der rechten Seite unterhalb eine etwa 7 Meter lange Röhre mit einem Durchmesser von rund 3 Metern. Die Schatten zweier nah gelegener Bäume zeichnen kryptische Muster auf die durch Algen und Moosbefall grünlich schimmernde Kunststoffhülle. Zusammen mit zwei oben liegenden Einfüllstutzen legt ein zirkuläres Sicherheitsgeländer auf der oberen Seite die Vermutung nahe, dass es sich um ein landwirtschaftliches Silo handeln könnte, das ins Erdreich eingesunken ist. Lange Zeit standen Silos aufrecht und waren dadurch weithin sichtbare Zeichen bäuerlicher Kulturlandschaften. Je höher das Silo in den Himmel ragte, umso größer war auch die Bedeutung des dazugehörigen landwirtschaftlichen Betriebes. Eine Art Fleiß und Reichtum manifestierender Phallus. Zwischenzeitlich sind diese Bilder jedoch größtenteils wieder verschwunden und so lässt auch der äußere Gesamtzustand des hier beschriebenen Objekts vermuten, dass es schon vor längerer Zeit entsorgt worden ist und somit auch seiner Aufgabe enthoben wurde, frisches Gras unter Sauerstoffentzug zu Futter für Nutztiere zu vergären. Hier handelt es sich um in die Landschaft entledigten Abfall. Wert- und nutzlos, vom Besitzer vergessen! Von der Vertikalen in die Horizontale gekippter ehemaliger Reichtum! Schon ranken sich außen an der Hülle Sträucher nach oben. Peu à peu werden sie nun den vermeintlichen ›Schandfleck‹ überwachsen und verhüllen. Damit hat das Silo einen Grad an Interesselosigkeit erreicht, die eine auf den Punkt gebrachte, notwendige Voraussetzung darstellt, um in den Zustand des Vergessens und der Metamorphose eintreten zu können.

Und wäre da nicht hinter dem Silo eine, ein mäanderndes Bächlein überquerende, schmale, geometrisch geformte und rostige Metallbrücke, die den Besucher genau auf das Silo zuführt, würde man wohl, ohne sich weitere Gedanken über dieses Objekt zu machen, einfach vorbeifahren.

Der Verdacht, dass es hier irgendwann zu einem bewussten Eingriff menschlichen Gestaltungswillens gekommen ist, erhärtet sich, wenn man über die schmale Brücke geht und sich dem Silo nähert. Dann dechiffriert man die wilden Sträucher an der Plastikhülle als dornige Brombeersträucher, die zu beiden Seiten in regelmäßigen Abständen gepflanzt worden sind. Vielleicht, um den weniger schönen Anblick des Silos auf natürliche Weise zu verdecken oder auch, um das Leben in dem Fass hüllend zu umfangen, so wie Dornröschen im Märchen der Gebrüder Grimm in ihrem Schloss unter einem schützenden Dornengestrüpp in einen tausendjährigen Schlaf fällt.

An der unteren, offenen Seite des Silos wurde eine vertikale, Holzverkleidung angebracht. Mittig ist darin befindet sich eine ovale Tür, die durch einen Riegel und ein handelsübliches kleines Schloss abgesperrt ist und somit den Eintritt in die ›Höhle‹ verwehrt. Die Spalten zwischen den einzelnen bräunlichen Fichtenbrettern lassen jedoch einen Blick in das Innere zu. Wenn man das Schloss mit Hilfe des übergebenen Schlüssels entriegelt und die Tür geöffnet hat, um ein oder zwei vorsichtige Schritte über eine Stufe in das Halbdunkel hinein zu wagen, übt das Innere dieser ›Höhle‹ eine geradezu unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Noch bevor die Augen sich an das Licht gewöhnt haben, nimmt man einen weißen, einem Phallus wiederum nicht unähnlichen Vorhang wahr, der an der Silodecke einen der beiden Einfüllstutzen ringförmig umfasst und so den von oben einfallenden Lichtkegel geradezu materialisierend in das Innere der „Höhle“ führt. Auf diese Weise scheint einerseits das Licht in seinem eigenen „Körper“ gefangen zu sein, andererseits verleiht es jedoch diesem Innenraum ein magisches Ganzes, ohne dass in der „Höhle“ selbst etwas davon deutlich zu erkennen wäre. Der Vorhang reicht fast bis zum hölzernen Boden und umschließt eine weiß emaillierte, auf zwei Kanthölzern stehende abgenützte Eisenbadewanne, wie man sie aus den 1960er Jahren kennt.

Außen ist die Natur: der kleine Bach, die im Herbst bunten Blätter der Bäume des nahen Wäldchens und im Hintergrund die sanften Hügel des Westerwaldes. Außen ist der Alltag: Autos fahren vorbei, hört man den Lärm der Flugzeuge, wird man an dieses oder jenes erinnert, das Handy klingelt, man fühlt sich gestresst und wartet sehnsüchtig auf den Moment des Innehaltens. Außen ist das Schattenspiel der Bäume auf der Silowand zu sehen. Außen sind wir!

Innen und innerhalb des Vorhangs sieht man in der mit schwarzen Streifen und Teerklumpen verschmierten, teilweise davon bedeckten und damit ihrer ursprünglichen Aufgabe enthobenen Badewanne ein amorphes pflanzenähnliches pechschwarzes ›Etwas‹. An manchen Stellen reflektiert das tiefe Schwarz durch die einfallende Sonne das Licht. Wie Äste windet und streckt es sich nach oben. Mehr und mehr formt eine tropfende und triefende Teermasse ein fast undurchdringliches krusten- und netzartiges Geflecht. Zufällig entstandene Querstreben stabilisieren das fragile Objekt. Auf dem Weg nach unten bildet die zähe Teermasse an einigen ›Ästen‹ tropfenförmige Kokons aus. Wie auf Händen trägt die Baumkrone grelle pinkfarbene Blüten und erotisierende Knospen, die sich in unförmigen, ebenfalls mit Teer überzogenen, Blütenkelchen ähnlichen Schüsselchen, befinden. Und über allem ragt auf der korallenartigen Spitze eine goldfarbene Blüte: es ist die Krone des Lebens.

Nähert man sich der Installation und nimmt den Vorhang etwas zur Seite, um einen ungehinderten Blick auf das Innere zu werfen, entfaltet der oben beschriebene Blütenzauber seine ganze haptische und visuelle Potenz. Er ist wie ein atmender, lebendiger Organismus, der sich scheinbar jeden Augenblick verändern und bewegen kann. Und in der Tat, hier ist der Wunsch nicht der Vater des Gedankens, denn hier ist ein geheimnisvoller Prozess des Gärens, Wachsens und der Kristallisierung in Gang gesetzt worden.

Harnstoff ist ein Kohlensäurediamid, also eine organische Verbindung. Reiner Harnstoff ist ein weißer, kristalliner, ungiftiger und hygienisch unbedenklicher Feststoff. Er gilt als die erste, aus anorganischen Ausgangsstoffen synthetisch hergestellte organische Verbindung. Das widerspricht der einst verbreiteten Vorstellung, dass organische Substanzen grundsätzlich nur von Lebewesen durch die so genannte ›vis vitalis‹, die Lebenskraft, hergestellt werden können. Harnstoff hat somit die Grenzen zwischen Natur und Künstlichkeit aufgehoben. Harnstoff wird von vielen Tieren als ein Endprodukt des Stoffwechsels von Stickstoffverbindungen im sogenannten Harnstoffzyklus produziert. Er wird im Urin ausgeschieden, um dann auf die Felder ausgebracht zu werden. Harnstoff fördert als Dünger das Wachstum des Grases, das später als Nahrung im Silo gärt und schlussendlich wieder an die Tiere verfüttert wird!

Und schließt sich hier nicht symbolisch wieder ein Zyklus? Ist nicht auch diesem Werk die Verbindung zwischen Natur und Kunst immanent, hier an diesem Ort, der selbstreferentiell das Thema Natur und Kunst zu bespielen versteht?

Hier an diesem Ort in diesem Silo bilden sich langsam – dem menschlichen Auge im Augenblick des Betrachtens nicht zugänglich – mit Hilfe von Wärme und Licht aus der orange schimmernden Flüssigkeit in den Schüsselchen kleinste Harnstoffkristalle. Diese breiten sich mehr und mehr in alle Richtungen aus; verdichten sich; fangen an, in teils nadelförmigen, teils geordneten geometrischen Formen zu wuchern; werden grösser und grösser; treten über die Ränder der Blütenkelche hinaus; verbinden sich mit danebenliegenden Kristallen oder weichen nach links oder rechts aus; schrauben sich in die Höhe; erfinden hier und dort neue Formen und beginnen in ihren wunderbaren Farben zwischen Blutrot und aufreizendem Pink je nach Lichteinfall zu flimmern, zu leuchten und reflektieren abhängig von der Tageszeit die einfallenden Lichtstrahlen. Es ist ein langsames, stetiges und achtsames Wachsen, ein Sich-Verändern, ein Reifen und ein wundersames Herausschälen der Schönheit dieser Kristalle.

Dieses Gebilde ist sehr fragil und es muss gehegt und gepflegt werden, denn fehlen den Harnstoffkristallen Sonne, Wärme und Licht als Quelle der Nahrung, stellen sie ihr Wachstum ein. In Wasser aufgelöst, warten sie danach bis sie wieder zu neuem Leben erweckt werden.

Dieser Zerbrechlichkeit und dem eventuellen Nachlassen des Wachstums verwehrt sich das Werk jedoch nicht. Es entspricht dem Entziehen, dem sich in den Kokon Zurückziehen im Sinne eines äußerlichen ›Stand-bys‹.
Im Dornröschenschlaf vollführt die ›Schlafende Schönheit‹ eine Metamorphose einer uns nicht zugänglichen Form von Realität. Die Schlafende erwacht aus ihrem ›Stand-by‹ und entfaltet sich wie ein wunderbarer Schmetterling, der aus seinem Kokon schlüpft, in ein erotisches Erlebnis der reinen Idee von Schönheit!

Die Antike hielt für diesen Gedankengang das Höhlengleichnis von Platon bereit. Bei dem hier beschriebenen Werk von Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger handelt es sich um eine Art Umstülpung desselben: während bei Platon der Mensch aus der Höhle aufsteigen muss, um die reine Idee im Sonnenlicht zu sehen, geht hier der Betrachter zur ›Schlafenden Schönheit‹ in die Höhle hinein. Die Synthese ist darin zu sehen, dass sowohl bei Platon, wie auch bei Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger der Sehende den Nicht-Sehenden aus seinem Schattendasein befreien und in die Idee des Schönen als den Schlüssel zur Erkenntnis kontemplativ einbeziehen möchte, wohl wissend, dass nur Wenige folgen möchten.

Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger

im Tal – Stiftung Wortelkamp