Ludger Gerdes
Stück im Tal
Sieben dreiteilige Elemente von 115 × 600 × 35–10 cm ordnen sich tangential um einen Kreis Ø 1880 cm, dessen Mittelpunkt in einem Teich liegt.
Roter Sandstein
Ludger Gerdes
*1954 in Lastrup bei Lindern
†2008 bei Dülmen
Stück im Tal
Ludger Gerdes, seit ein paar Jahren vielfältig mit Projekten im öffentlichen Raum in Erscheinung getreten, verbindet bei dieser Arbeit mehrere Aspekte, die im bisherigen Werk getrennt voneinander gewesen waren. So tauchte die Form eines aus gegeneinander versetzten Wänden gebildeten offenen Kreises in Modellen und Bildern bereits verschiedentlich auf, etwa in einer 1985 entstandenen Arbeit mit dem Titel »Meine Gedanken kreisen um Dich«. Allerdings handelte es sich dort um fünf, nicht sieben Kompartimente, was aber die Idee von einem ›offenen Grundriß‹ nicht wesentlich verändert.
Wichtig ist in jedem Fall, daß durch die Wände Räume abgegrenzt werden, ohne voneinander abgeschlossen zu sein. So fühlt man sich, steht man innerhalb des offenen Kreises, gehalten, aber nicht gefangen. Zudem bekommt man durch die Wände sieben Blickrichtungen, also sieben Perspektiven, aus denen sich die umliegende Landschaft wahrnehmen läßt, was den zu bewußtem Sehen veranlassenden Kunstcharakter des ›Tals‹ auf eigene Weise betont und im günstigsten Fall die üblichen Rezeptionsunterschiede von Natur und Kunst zum Verschwinden bringt. Doch abgesehen von diesem Landschaftsbezug, der durch die Form der Arbeit gestiftet wird, besitzt sie auch im wörtlichsten Sinne eine Innenseite.
Jede der Wände ist mit einem Wort beschriftet, wobei sich, im Uhrzeigersinn gelesen, der Satz »Ichs dürfen können wollen sollen müssen sterben« bildet. Dieser Satz, dessen Wortbestand sich in anderer Weise auch in einer 1991 in Utrecht entstandenen Neonarbeit findet, ist wegen seiner ungewöhnlichen Struktur und der ungebräuchlichen Pluralform ›Ichs‹ in seiner Bedeutung so offen und zugleich als etwas Sinnvolles in seinem Bedeutungsspektrum so begrenzt wie der offene Kreis, in dem er sich befindet. Es ist ein Satz, der in der Aneinanderreihung der Modalverben den dem Menschen grundsätzlich verfügbaren offenen Möglichkeitsraum anzeigt, der aber selbst nicht unendlich, sondern begrenzt ist. So trifft sich also auch der allgemeine Satzinhalt mit der Form des offenen Kreises. Die Kreisform ruft zudem das alte Bild für den im Tod sich vollendenden Lebenslauf wach, was ebenfalls zum Inhalt paßt, indem der Satz mit ›sterben‹ endet. Damit ist der Punkt markiert, an dem alle Möglichkeiten ihren Abschluß finden, so wie sie andererseits erst dadurch gebildet werden, daß ein Subjekt sich seiner selbst bewußt wird und sich so eine Distanz zu seiner Welt und einen Freiraum schafft, der eine Pluralität von Erfahrungsweisen konstituiert. Zwar könnte man ›Ichs‹, das als Wort auch schon in einigen früheren Arbeiten von Gerdes auftaucht, als ein Synonym zu ›Subjekte‹ verstehen, doch es bietet sich an, jene Pluralität von Erfahrungsweisen, die in den jeweiligen Modalverben anklingen, als eine Vielfalt von Ichs zu deuten, die mehr oder weniger stark in jedem einzelnen Menschen ausgeprägt sind. Auf die philosophisch insbesondere in der Romantik und innerhalb des Pragmatismus verankerte Vorstellung vom menschlichen Selbst als Bündel von Einzelichs, die nicht, wie im Fall der Schizophrenie, voneinander getrennt, aber doch unter Umständen einander widerstreitend sind, hat sich Gerdes wiederholt berufen. Dabei ergeben sich aus den Ichs nicht nur die Modalitäten, sondern ihnen korrespondieren auch Fähigkeiten, Stimmungen, Verstehensweisen. Die Welt in ihrer Vielfältigkeit kann nur von Menschen erfaßt werden, die für die einzelnen Facetten ein ausgeprägtes Sensorium besitzen. Deshalb vermag eine vielgestaltige Persönlichkeit, trotz deren Gefährdung durch Zerrissenheit und Lähmung aufgrund von Unentschiedenheit, vor allem in einer Gesellschaft als Ideal zu erscheinen, die auch sonst Pluralismus zu einem Anliegen gemacht hat und in der es wichtig geworden ist, Sensibilität und Verständnis gerade für das (vermeintlich) Fremde zu entwickeln.
Als die Idee einer offenen, pluralistischen Gesellschaft im 18. Jahrhundert erstmals weitläufig auftauchte, fand sie Ausdruck nicht zuletzt im Konzept des Englischen Gartens. Da sollten einem Besucher in rascher Abfolge verschiedene Stimmungsbilder erscheinen, unterschiedliche Epochengefühle und Blicke in fremde Kulturen vermittelt werden.
Heute muß man nicht durch die Geschichte und über alle Kontinente gehen, um sich echte Vielfalt zusammenzusammeln, denn mittlerweile ist die Gesellschaft offen und pluralistisch geworden, auf engem Raum tagtäglich zu erleben. So ist auch das ›Tal‹ gleichsam ein moderner Englischer Garten: Jeder der daran beteiligten Künstler stellt etwas aus seiner eigenen Welt dar, so daß insgesamt sehr unterschiedliche Landschaftsbilder entstehen. Die Arbeit von Ludger Gerdes verbindet den philosophischen Gedanken von Pluralität mit einer Gestaltung von Offenheit sowohl durch den Satz selbst, als auch durch die Form des offenen Kreises inmitten einer vielfältigen Landschaft, über die sie damit zugleich reflektiert.
Wolfgang Ullrich