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Nikolaus Gerhart

Kern und Hülle

1986/89

Kern 100 × 100 × 210 cm
Hülle 288 × 118 × 100 cm
Basaltlava, Bachlauf

Nikolaus Gerhart

*1944 in Starnberg
lebt in München

Die Plazierung der zweiteiligen Steinskulptur »Kern und Hülle« (1986/89) von Nikolaus Gerhart am Ufer des Baches im ›Tal‹ erscheint zufällig, provoziert aber zugleich Zweifel am Scheinbaren. Begründend dafür ist neben der Verortung des Werkes auch die Art und Weise des Materialumgangs. Aus einem hochrechteckigen, aus Basaltlava bestehenden Steinrohling wurde der voluminöse Kern gewissermaßen herausgeschält. Als Relikt liegt er in unmittelbarer Nähe zum ehemaligen Steinblock, der nunmehr geöffnet und in der räumlichen Transparenz dem Rahmen einer Fenster- oder Türöffnung vergleichbar ist. Die glatten Innenflächen lassen den Arbeitsprozeß konkret werden: Ein durch Bohrung in den massiven Steinblock eingeführtes Drahtseil hat mit scharfem Schnitt Inneres von Äußerem getrennt. So entsteht vor Ort das auch räumlich akzentuierte Spannungsverhältnis zwischen einer Positiv- und Negativform, die sich einander in der Polarität bedingen und sich gegenseitig als eigenständige Form präsentieren. Im Wesen ähnlich Hülle und Kern sind ihre Charaktere verschieden, und dennoch gehören sie, sich ergänzend, zusammen.

Darüber hinaus zeigt das Werk eine skulpturale Tradition an, die, im Unterschied zum plastischen Verständnis, nicht als ein hinzufügend – aufbauendes Prinzip zu erkennen ist. Vielmehr geht es um eine Reduktion vorhandener Materialität, wobei – und dies in eigenwilliger Interpretation eines bildhauerisch Üblichen – auch im Weggenommenen eine eigenständige Form erkannt und diese als solche vorgestellt wird. Durch präzises Kalkül erscheint dabei die im Stein verborgene Form des Kerns aus fesselnder Materialität befreit. Zugleich ist der Stein durch die einschneidende Maßnahme gezwungen, den in ihm steckenden Kern freizugeben. Ist in dem einen Fall Form das Resultat befreiter Materie, entsteht sie im anderen Fall aufgrund einer Unterwerfung des Materials. Beides dient der Veranschaulichung einer Bearbeitung und Formung von Rohstoff, so daß Aspekte des Materials selbst wie Sprache und Ausdruckswille der Basaltlava eine eher untergeordnete Rolle spielen. Entsprechend ist »Hülle und Kern« weniger in der Expressivität des Steins präsent als vielmehr im Potential des Materials eine Form entlassen zu können, um in der Konfrontation zwischen ursprünglicher und entstandener Form Energie und Kreativität der Transformation zu offenbaren. Bestimmend hierfür ist die Vehemenz und Zentralität des Eingriffs am Material, der die Körperlichkeit des Steins entkernt und in dieser Art einer Entmaterialisierung zur Vergeistigung von Stofflichem führt. Im Zusammenhang des geometrischen Formausschnitts erscheint dies noch einmal mehr angezeigt: Der geöffnete Stein wirkt gleichermaßen als Durchgang und Einlaß. Man kann ihn betreten, um wieder aus ihm herauszutreten. Eine Flut architektonischer Assoziation wird in Gang gesetzt, die sowohl pragmatischer als auch metaphorischer Natur sind. Als Fenster zur Landschaft wirkt der transparente Stein, aber auch als Tor zur unmeßbaren Weite der Natur.

Ebenfalls könnte von Durch- bzw. Zugang zum freien Raum gesprochen werden. Dessen Transparenz und Unsichtbarkeit konkretisiert sich im Ausschnitt des Steins, der eine auch rahmende Funktion erfüllt. Eine Leere ist sichtbar, die in ihrer Immaterialität zeigenden Charakter hat: Indem sie landschaftliche Weite als begrenzten Ausblick vorstellt, bringt sie Natur als gerahmtes Bild vor Augen. Im ästhetischen Charakter entspricht es der skulpturalen Bearbeitung des Basaltsteins, dessen Ursprünglichkeit in bildnerische Form verwandelt erscheint. Zwar ist dem Werk vor allem auch aufgrund seiner roh belassenen Oberflächenstruktur eine gewisse monolithische Archaik zu eigen. Sie aber hat nicht die dominante Kraft des kalkulierten Einschnitts, durch den vielmehr das bildnerische Formwollen zentrale Bedeutung gewinnt. In seiner transformatorischen Absicht macht es die Verortung von »Kern und Hülle« am Bachufer sinnfällig: Wie andernorts kaum erfahrbar, ist in Verlauf und Stetigkeit des Flusses eine Kraft angezeigt, die Einfluß nimmt und Materie in Form und Struktur verändert. Nicht allein die Befürchtung vorzeitiger Ruinierung des entkernten Steins mag Nikolaus Gerhart dazu bewogen haben, den anfänglich im Wasser plazierten Stein letztlich am Ufer aufzustellen. Vielmehr war der Gedanke maßgeblich, eine unmittelbare Evidenz des Werkes eher durch Parallelisierung menschlicher Schöpfermacht und natürlicher Transformationsenergie erwirken zu können. Am jetzigen Standort der Skulptur gewinnt dies die Qualität des Anschaulichen.

Claudia Posca

im Tal – Stiftung Wortelkamp